Mendelssohn

Elias

Werkeinführung zu Mendelssohns ‘Elias’

Am 17. oder 18. August 1846 trifft Mendelssohn in London ein. Unverzüglich beginnen die Solistenproben im Haus von Ignaz Moscheles, und am 20. und 21. August finden die ersten Orchesterproben in den Hanover Square Rooms statt. Ein anwesender Reporter der Musical World erklärt noch vor der Uraufführung das Oratorium ‘Elias’ zum Meisterwerk Mendelssohns und stellt dabei die Frage, warum der Komponist keine Oper geschrieben habe. Zum ersten Male in der Musikgeschichte bringt am folgenden Tag ein Sonderzug etwa 300 Aufführende, inklusive Presse, von London zur Erstaufführung nach Birmingham.

Die Zahl der Mitwirkenden ist überliefert: 271 Sängerinnen und Sänger im Chor (79 Soprane, 60 Countertenöre, 60 Tenöre und 72 Bässe), 125 Orchestermusiker, ein Organist und die 4 Solistinnen und Solisten: Maria Cardori-Allan, Sopran, Maria B. Hawes, Alt, Charles Lockey, Tenor und Josef Staudigl, Bass, als erster ‘Elias’.

Während des Birmingham Triennial Music Festivals werden nicht weniger als sechs Konzerte gespielt, deren Höhepunkt die Uraufführung des ‘Elias’ am Mittwoch, dem 26. August bildet. Die Proben in der Town Hall beginnen am Morgen des 24.8. und werden am Dienstagabend nach dem ersten Vormittagskonzert fortgesetzt, in dem Haydns ‘Schöpfung’ gespielt wird. Als Moscheles, der einige Konzerte dirigieren soll, erkrankt, übernimmt Mendelssohn Montagabend eine Probe für Beethovens ‘Missa solemnis’. Das Birmingham Journal kommentiert Mendelssohns «remarkable power over the performers» während der Probe, «molding them to his will and though rigidly strict in exacting the nicest precision, he does it in a manner irresistible – actually laughing them into perfection». Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Stadt in Erwartung des neuen Oratoriums in grosser Aufregung. Das Werk steht so sehr im Mittelpunkt, dass von seinem Erfolg das ganze Prestige des Festivals abhängt.

Als Mendelssohn am 26. August 1846 mittags um 11.30 Uhr in der überfüllten Town Hall das Dirigentenpult erreicht, legt das Publikum alle förmliche Zurückhaltung ab und begrüsst den grössten Komponisten der Gegenwart mit lautem und einhelligem Jubel. Allen Berichten zufolge ist die Aufführung ein uneingeschränkter Triumph, beim Publikum wie bei der Presse. Das Ende des Schlusschors ertrinkt in rauschendem Applaus. ‘Elias’ wird nicht nur als Mendelssohns Meisterwerk, sondern auch als eine der ausserordentlichsten Leistungen des menschlichen Geistes überhaupt gepriesen. Details der Aufführung sind einem Brief zu entnehmen, den Felix Mendelssohn noch am gleichen Tage an seinen Bruder Paul zu schreiben beginnt: «Du hast Dich von Anfang an so freundlich für meinen Elias interessiert und mir dadurch zu seiner Vollendung so viel Lust und Muth gemacht, dass ich Dir nach der gestrigen Aufführung schreiben und Dir davon erzählen muss ...»

Wir Zeitgenossen sind es gewohnt, von grossen Interpreten der ‘Historischen Aufführungspraxis’ immer wieder mit Werken überrascht zu werden, die lange in den Bibliotheken ihrer Wiederentdeckung harrten. ‘Elias’ hingegen ist das einzige Werk aus dem unerschöpflichen Oratorienschaffen des 19. Jahrhunderts, das im Konzertbetrieb fest verankert ist und keiner Wiederbelebung bedarf.

Nicht einer Wiederbelebung, wohl aber einer kompletten Neubesinnung bedarf die Anerkennung und Einordnung Mendelssohns im Kontext der historischen Verbindungslinien zwischen dem Barock, der Wiener Klassik und der Frühromantik. Allein im ‘Elias’ sind die Weiterführungen der musikalischen Rhetorik des Barockzeitalters im Bereich der Formen- und Harmonielehre sowie der Instrumentierung so stilsicher und gekonnt dialektisch aufgehoben, dass eine neue Sprache und Ästhetik daraus hervorgegangen ist. Im Fragment ‘Christus’ lässt sich erahnen, dass ein vielleicht noch grösseres Oratorium die vielleicht geplante Trilogie abgeschlossen hätte. Und wer weiss, ob nicht Mendelssohn ein ernsthafter Rivale von Wagners Gesamtkunstwerk auf dem Gebiet der Oper geworden wäre, hätte sein Leben noch 20-30 Jahre länger gewährt.

Inhaltsverzeichnis der Dokumentation


  • Elias’ - ein Oratorium mit rauschendem Erfolg!
  • Lebensbild Felix Mendelssohns
    Die Familie Mendelssohn
    Felix’ Kindheit und Ausbildung
    Der fünfzehnjährige Künstler
    Das grosse Vorbild
    Reisen
    Gefragter und innovativer Musiker und Veranstalter
    Anspruch an Kulturvermittlung
    Wendepunkte im Leben
    Gründung der Musikhochschule in Leipzig
    Schicksalsschlag und letzte Lebensmonate
    Kulturelle Würdigung, soziale und politische Diffamierung des Komponisten
  • Mendelssohns kompositorisches Werk
    Überblick
    Popularität des musikalischen Werks
  • Der ‘Elias’
    Entstehung des Oratoriums
    Inhalte und Gliederung des Oratoriums
    Teil 1: Fluch des Elias, Dürrekatastrophe und Regenwunder
    Teil 2: Verfolgung des Elias, Selbstprüfung und Himmelfahrt
    Rezeptionsgeschichte des ‘Elias’
  • Die Elias-Erzählung im biblischen Kontext
    Einführung
    Die Elias-Erzählung im Alten Testament
    Überlegungen zur Auslegung der Tötungsszene
    Fanatismus
  • Besprechung der einzelnen Stücke
  • Quellenverzeichnis

1. Seite Elias in Mendelssohns Handschrift

1. Seite Elias in Mendelssohns Handschrift