Haendel

The Messiah

Werkeinführung zu Haendels "Messiah"

'Episches' und 'Englisches' Oratorium

Wie wir in der Lebensbeschreibung Händels und der Entstehungsgeschichte des "Messias"verfolgen konnten, ist auf der Suche nach einer zeitgemässen Ausdrucksform eine partiell neue Gattung entstanden: das 'Englische Oratorium'. Aufgrund der Distanzierung der englischen Kirche vom Katholizismus gab es vor Händel keine Oratorienkompositionen, auf denen er seine Werke hätte aufbauen können. Erst die Phase religiöser Toleranz unter König Georg II, einem Gönner Händels, schuf die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Erfolg seiner Oratorien. Auch hängt ihr Erfolg nicht zuletzt mit dem Erstarken der bürgerlichen Mittelschicht zusammen, das die italienische Oper als aristokratische Gattung ablehnt und das Oratorium als theatralisch-konzertante Gattung begreift.

Subjektive Theologie als Libretto

Der "Messias" unterscheidet sich von Händels anderen Oratorien durch die Erzählhaltung, die Erzählperspektive des Verweisens. Nicht nur der Gegenstand, die Lebensgeschichte eines 'Helden', sondern auch die Form ihrer Darstellung legt den Begriff des 'Epischen Oratoriums' nahe. Keine verteilten Rollen handelnder Personen, keine direkte Rede, keine Dialoge, kurz: alle Elemente des Dramas fehlen, welche die anderen Oratorien Händels ausmachen. Die Textzusammenstellung durch Charles Jennens weist einen unwiderstehlichen göttlichen Plan auf, der von der Prophezeiung der Erscheinung des Messias bis zur allgemeinen Erlösung durch den Sieg über den Tod alle wichtigen Themen eines christlichen Glaubensbekenntnisses beinhaltet. Aber die Kombination und Auswahl aus Texten von Altem und Neuem Testament sowie der anglikanischen Liturgie der Trauergottesdienste ist und bleibt eine singuläre, subjektive Theologie des Librettisten, die ihre Kraft und Überzeugung aus der Symbiose mit ihrer musikalischen Darstellung zieht.

Die Fortsetzung der Oper mit anderen Inhalten

Auch wenn Händel in jungen Jahren einige italienische Oratorien verfasst hatte, sammelte er in mehr als zwanzig Jahren ununterbrochen Erfahrungen in der Komposition von Opern und war sein ganzes Leben lang dieser Gattung mit Haut und Haaren verschrieben. Was aber sind denn nun die charakteristischen Merkmale der Oper, die wir in den Oratorienwiederfinden?

  • Die Dreiteiligkeit, abgeleitet von den grundsätzlich aus drei Akten bestehenden Opern Händels
  • Die musikalische Ausgestaltung individueller Affekte
  • Mit Ausnahme des "Messias" der dramatische Entwurf und die individuellen Rollen
  • Bedenkt man weiterhin, dass Händel 1732 seine beiden Bühnenwerke "Acis and Galatea" und "Esther" als 'Oratorio' bezeichnete, ist nicht einmal die Bühnenform ein Unterscheidungsmerkmal
  • Die Aufführungsorte

Und was sind die wichtigsten Unterschiede?

  • Die englische Sprache
  • Die Texte aus dem Alten Testament oder literarische Bearbeitungen von Themen, die dem Alten Testament entnommen wurden (Ausnahme "Messias")
  • Die zentrale Rolle des Chores
  • Die nicht vorrangig auf Virtuosität ausgerichteten Solopartien
  • Im "Messias" die bedacht zurückhaltende Besetzung des Orchesters

Die Stilvielfalt, der Formenreichtum und der stringente musikalische Plan

Wie in den 'Allgemeinen Überlegungen zur musikalischen Realisierung' (Kapitel V) ausgeführt wurde, betrat Händel aufgrund der formalen Anlagen der hebräischen Dichtung in ihrer musikalischen Umsetzung Neuland. Das Experiment mit drei verschiedenen Stilrichtungen -dem englischen Choranthem, der Chorfuge der protestantischen Kirchenmusik Mittel- und Norddeutschlands sowie der italienischen Opernarie - erleichterte einerseits, Unterscheidungen zu treffen zwischen den vielschichtigen, neutralen, bekenntnishaften, affektiven und philosophischen Texten. Andererseits musste eine übergeordnete Form gefunden werden, die den disparaten Teilen inneren Zusammenhang verschaffte.

In der Lösung dieser Aufgabe sehen wir in Händel einen der Meister der Musikgeschichte im Bereich der formgebenden Gestaltung:

  • Selbstzitate wie z.B. die Eröffnungsthemen in den Nummern 15 und 30
  • Ähnliche bzw. gleiche musikalische Figuren für vergleichbare Textgehalte, z.B. Ein-Ton-Motiv für die Stimme Gottes
  • 3er Gruppen, mit inhaltlichem Bezug und Besetzungsähnlichkeiten
  • Charakteristische Instrumentalbesetzungen (Trompeten und Pauken)
  • Anfangs- und Schlussnummern der drei Teile haben stilistisch enge Verbindung zueinander
  • Tonartenverbindungen sind direkt inhaltlich aussagekräftig
  • Die gezielte Anwendung der Kanonformen, der Fuge, der polyphonen - und homophonen Kompositionsweise, der Verdichtungstechniken, der Pausen, der Modulationen etc. durchziehen alle Stücke, unabhängig von ihrem textlichen Gehalt
  • Musikalisch gestaltete affektive Vorschau auf Kommendes: z.B. Sinfonie, Nr. 18 "His yoke is easy" etc.

Je detaillierter wir uns in das Werk "Messias" einarbeiten, desto grösser wird unser Eindruck, dass der unwiderstehliche göttliche Plan des Librettos eine Entsprechung im stringenten musikalischen Aufbau aufweist.

Das Grossartige, das Erhabene und das Zärtliche

Kehren wir kurz zu den drei Stilvorlagen zurück, die Händel im "Messias" so meisterhaft kombiniert hat.

· Das englische Choranthem

Das Anthem hat innerhalb der anglikanischen Liturgie einen vergleichbaren Stellenwert wie die Motette in der katholischen und protestantischen Kirche. Es handelt sich dabei um eine eigenständige, englische musikalische Form, die seit der Gründung der Church of England im 16. Jahrhundert alle bekannten Komponisten anregte. Das Hymnische und Grandiose dieser Form finden wir im "Hallelujah" des "Messias" in seiner reinsten Erscheinung.

· Die Chorfuge der protestantischen Kirchenmusik Mittel- und Norddeutschlands

In der Norddeutschen Orgelschule wird die Fuge zum abschließenden Gegenstück eines vorangehenden Präludiums, einer Toccata oder anderer Formen. In den Oratorien von Bach, Bachs Söhnen und den deutschen Barockkomponisten wird die Form in die geistliche Chormusik übernommen. Ein typischer Vertreter dieser erhabenen Form ist die Nr. 11 "For unto us a child is born".

· Die italienische Opernarie

Auf diesem Gebiet ist Händel neben Porpora, Scarlatti, Vivaldi etc. selbst einer der formbegründenden Meister. In den Opern sind die Arien textgebunden meistens einem Affekt gewidmet, der bis in die kleinsten Regungen ausgelotet und ausgereizt wird: Zorn, Trauer, Empathie, Eifersucht, Rachegelüste etc. Ein Beispiel zärtlichster Regung finden wir im Duett Nr. 17 "He shall feed His flock".

· Die Französische Ouvertüre

Wir haben sowohl die Form als auch die Stücke im "Messias" an anderer Stelle abgehandelt (vgl. Kommentare zu den einzelnen Stücken in der Texttabelle). Wir finden einzelne Stücke, die jeweils eine der Stilvorlagen vollständig erfüllen. Mehr Stücke hingegen weisen Anteile verschiedener formgebender Stile auf. Wichtiger aber ist das Bewusstsein, dass nur ein lebendiger Wechsel der Formen, Stile und Affekte ein so reichhaltiges und doch in sich abgerundetes Meisterwerk hat hervorbringen können, das nichts Geringeres als den lebendig gewordenen Gott des Christentums zum Inhalt hat. Und dieser Reichtum des Ausdrucks lässt sich in den drei Kategorien zusammenfassen, die in der ersten Kritik des "Messias" im 'Dubliner Journal' standen: "The Sublime, the Grand and the Tender", "Das Erhabene, das Grossartige und das Zärtliche".

Inhaltsverzeichnis der Dokumentation

  • Georg Friedrich Händel (1685 - 1759) - was wissen wir über ihn?
  • Quellenlage zu Leben und Werk
  • Leben und Werk und die Einordnung des "Messias"
    Geburt und Jugend in Halle
    Händel in Hamburg
    Händel in Italien
    Händel in England
    Gründung eines Opernunternehmens der königlichen Akademie
    Krisenzeiten und Untergang des Opernunternehmens
    Erholung und Neubeginn
    Die grossen Oratorien
    Körperliche Leiden und Tod
  • Die Entstehungsgeschichte des "Messias"
    Wie es zur Komposition des "Messias" kam
    Aufnahme des "Messias" durch das Publikum in Dublin
    Aufnahme des "Messias" durch das Publikum in London
    Die Kritik Charles Jennens' an der Erstfassung des "Messias"
    Die verschiedenen Fassungen des "Messias"
    Besetzung des Orchesters, des Chores und der Solisten
  • Text und Musik: Von der Grobeinteilung bis zur Feinstruktur
    Das Libretto
    Die Textsammlung und ihre Bedeutung
    Allgemeine Überlegungen zur musikalischen Realisierung
  • Deutsche Übersetzungen
  • Charakteristika der einzelnen Stücke und innere Zusammenhänge
  • Deutungen und Fazit
    'Episches' und 'Englisches' Oratorium
    Subjektive Theologie als Libretto
    Das Grossartige, das Erhabene und das Zärtliche
  • Aufführungsgeschichte
  • Ausgewählte Literatur

Faksimile der ersten Seite des ‘Hallelujah’

Faksimile der ersten Seite des ‘Hallelujah’