Bach

Messe in h-Moll

Werkeinführung zu Bachs "Messe in h-Moll"

Der Sinn des Ganzen

Solange es keinen Beweis für einen bestimmten Entstehungsgrund der h-Moll Messe gibt, einen Auftraggeber oder einen besonderen Aufführungsanlass, werden wir auf eigene Deutungen und Interpretationen angewiesen sein. Alle vorliegenden Erläuterungen sind demnach Versuche, dem Mysterium des Wunderwerks der Bachschen Messe näher zu kommen, das Verständnis zu vertiefen und die Schönheit fassbar zu machen.

Unsere Annäherung an ein vertieftes Verständnis soll mit einer Fragestellung abgeschlossen werden, die einerseits zusammenfassend Bachs Motiv für die Komposition umreisst, andererseits seine persönliche Haltung zu seinem Werk zu deuten versucht: was ist der tiefere Sinn der h-Moll Messe?

Das führt uns direkt zur meistbehandelten Frage in der Sekundärliteratur: Warum schreibt der Lutheraner Johann Sebastian Bach eine lateinische Messe als Höhepunkt seiner Vokalkompositionen?

Eine zusammenfassende Antwort gibt darauf Michael Wersin in seinem Buch „Bach hören“, erschienen im Reclam Verlag: „Die Messe h-Moll ist höchstwahrscheinlich zu jenen äußerlich zweckfreien Werken zu zählen, mit denen Bach in seinem letzten Lebensjahrzehnt die Summe seines Schaffens zog. Er hat vermutlich einem kompletten Messordinarium, das seiner Gattung nach auf einer jahrhundertelangen kirchenmusikalischen Tradition beruhte, eine weitaus höhere Überlebenschance beigemessen als jenen viel enger anlassgebundenen deutschsprachigen Gottesdienstmusiken (Kantaten), aus deren Sätzen er die Messe h-Moll weitgehend zusammengestellt hat“. (S 126).

Das Besondere an dieser Messvertonung ist aber der individuelle Zuschnitt, den Bach ihr gibt. Indem er sein Bestes aus den Kantaten mit Kompositionen im alten Stil und neuesten Schöpfungen zusammenträgt, darüber hinaus sämtliche zu seiner Zeit gültigen Solo- und Duett-Kompositionstechniken anwendet, die auch in Opern Gültigkeit hätten, schafft Bach ein Werk, das überzeitlich und umfassend Geltung beanspruchen darf.

Bachs persönliche Aussage erscheint in der zweimaligen Nennung seines Namenszuges an theologisch so zentraler Stelle, dass er den beschriebenen Ereignissen allerhöchste Bedeutung beimisst: der Menschwerdung Gottes und dem Opfertod Jesu.

So rückt der Mensch ins Zentrum des Werks, und die Kreuzestheologie wird zu Bachs Bekenntnis. Dem entspricht in der h-moll Messe die zentrale Stelle des Leben-Jesu-Teils im ‚Credo’. Wenn Bach in seinem Choralvorspiel "Wenn wir in höchsten Nöten sein", das er schreibt, als er schon weiß, dass er stirbt, dem cantus firmus mit dem Text "Ich trete vor Dich in höchster Not" genau 14 Noten und damit der oft von ihm benutzten Summe seines Namens musikalischen Ausdruck gibt, so denke ich, dass Bach von einer sehr persönlichen Gottesvorstellung ausgeht.

Das letzte Stück der h-Moll Messe, ‚Dona nobis pacem’ ist dieselbe Komposition wie das ‚Gratias agimus tibi’, das ja selbst schon auf die Kantate Nr. 29 zurückgeht. Mit dessen Wiederverwendung baut Bach eine Brücke zur ‚Missa’ des Anfangs und betont damit den inneren Zusammenhang. Aber er legt auch ein persönliches Bekenntnis ab: so wie auf der ersten Seite eines jeden neuen Stückes der Partitur J.J. steht ‚Jesus Juva’ = ‚Jesus hilf’ und am Schluss des ganzen Werks anstelle des Namens DSGl steht ‚Deo Soli Gloria’ = ‚Allein zur Ehre Gottes’, so verbindet Bach den Dank mit der Bitte um Ruhe, die angesichts seines nahen Lebensendes nur verständlich erscheint.

Nach all dem Gezeigten kann es nur eine Möglichkeit einer adäquaten Aufführung der h-moll Messe geben: die unter der harmonischen Oberfläche gelagerten Tiefenschichten der symbolischen Figurationen, musikalisch-rhetorischen Wendungen und deren Bedeutungen und existentiellen Aussagen müssen durchhörbar gemacht werden.

Inhaltsverzeichnis der Dokumentation

  • Der Barock – Epoche und politische Situation
  • Johann Sebastian Bach
    Kindheit in Eisenach
    Jugend in Ohrdruf
    Die Zeit in Lüneburg
    Erste Anstellung in Arnstadt
    Organist in Mühlhausen
    Hoforganist in Weimar
    Hofkapellmeister in Köthen
    Thomaskantor in Leipzig
  • Ordnung, Zahl, Maß und Symmetrie – und über allem die schönste Harmonie
    Das Autograph
    Der Titel
    Die Ordinariums-Messe
    Die Entstehungszeiten
    Einige Eckpunkte in Zahlen
    Schönheit in der antiken Kunst und Musik
    Symmetrie im Barockzeitalter
    Die Symmetrie in einzelnen Teilen
    Die Symmetrie in den Stücken
    Die Symmetrie in den Motiven, Themen etc.
  • Alte und neue Musik und die Parodie als Schöpfungsakt
    Die h-moll Messe: ein Gesamtwerk
    Übersicht der Entstehungszeit und Herkunft der einzelnen Stücke
    Die ‚Neue Musik’ der h-moll Messe am Beispiel des ‚Et incarnatus est’
    Die verschiedenen Parodienverfahren
    Veranschaulichung der Parodiebearbeitung am Beispiel des ‚Crucifixus’
    ‚Alte Musik’ in der h-moll Messe
  • Musikalische Rhetorik und gestaltete Theologie oder der Sinn des Ganzen
    Was verstehen wir unter musikalischer Rhetorik?
    Die musikalische Figurenlehre
    Was nützt uns all dieses Wissen beim Hören der Musik?
    Die „Zahlenmystik“ als gestaltete Theologie in Bachs Kompositionen
    Zahlensymbolik am Beispiel des ‚Sanctus’
    Christliche Zahlensymbolik am Beispiel der Zahl 7
  • Zusammenfassung: Der Sinn des Ganzen

Autograph Gloria Seite 1